Gedenkhalle zu Vorwürfen Erdogans

Nazi-Praktiken in Deutschland heute!?

Der türkische Staatspräsident Erdogan hat Deutschland "Nazi-Praktiken" vorgeworfen. Anlass dafür waren Absagen von Veranstaltungen, bei denen türkische Minister Wahlkampf für das Verfassungsreferendum in der Türkei hatten machen wollten. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sagte Erdogan: “Eure Praktiken machen keinen Unterschied zu den Nazi-Praktiken in der Vergangenheit". Im Weiteren behauptete Erdogan, Deutschland habe mit Demokratie nichts zu tun. Ähnliche verbale Attacken Erdogans und anderer türkischer Minister auf Deutschland folgten in den Tagen darauf gleich mehrfach.

Halten wir uns vor Augen, was einen Staat wie Deutschland heute ausmacht, was demokratische Verhältnisse in Deutschland heute sind und was damals Nazi-Praktiken waren, dann kann man nur dringend dazu raten, den türkischen Staatspräsidenten Erdogan baldmöglichst zu einer ausführlichen Bildungsreise nach Deutschland einzuladen. Wichtigster Bestandteil dieser Reise sollte der Besuch einer NS-Gedenkstätte sein, um dem türkischen Staatspräsidenten begreiflich zu machen, was unter „Nazi-Praktiken“ zwischen 1933 und 1945 tatsächlich zu verstehen war. Auch wären der Besuch des Bundestags und des Bundesverfassungsgerichts zu empfehlen, um den Blick für das Verständnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft für gesellschaftliche Teilhabe und die Wahrung der Grundrechte zu schärfen. Außerdem sollte das globale Netzwerk „Reporter ohne Grenzen“, das sich mit gewaltfreien Mitteln gegen Zensur und gegen restriktive Mediengesetze einsetzt, auf der Besuchsliste stehen. Last but not least gäbe es sicher auch zahlreiche nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Deutsche, Deutschtürken oder in Deutschland lebende Türken, mit denen Erdogan sprechen könnte, um sich ein differenziertes Bild von den Verhältnissen im so unangemessen von ihm gescholtenen Deutschland zu machen.

Bei einem Gegenbesuch in der Türkei sollten selbstverständlich die entsprechenden türkischen Institutionen aufgesucht werden, um im Abgleich der Verhältnisse auszutauschen, was welches Land unter Demokratie, Gewaltenteilung, Pressefreiheit und tolerantem Umgang mit Andersdenkenden versteht. Denn wenn etwas helfen kann aus der aktuell verfahrenen Situation wieder herauszukommen, dann nur das kultivierte Gespräch und der Austausch von echten Argumenten anstelle von populistischen Provokationen. Am Ende eines solchen Bildungsaustauschs könnte nicht nur ein neues Verständnis der Problematik von Nazi-Vergleichen im Besonderen stehen, sondern auf einer universellen Ebene die Einsicht neu gedeihen, dass politisch instrumentalisierte Kampfrhetorik die Prinzipien von sachlicher Rede und Gegenrede nicht aushöhlen darf, will man die politischen Verhältnisse und den respektvollen Umgang miteinander ernsthaft und dauerhaft befrieden. Nur so ließe sich die gewünschte friedliche Koexistenz von Türkei und Deutschland erreichen.

Clemens Heinrichs
Leiter Gedenkhalle
24. März 2017